„Gibt es eine europäische Rettung des Nationalstaats? Nation und europäische Integration in Geschichte und Gegenwart“
20. Rödermärker Hochschultag am 18. April 2016, 18:30 bis 20:30 Uhr, in der Kulturhalle Rödermark
mit Prof. Dr. Andreas Wirsching, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin
Europa kommt nicht zur Ruhe. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, der Rettung Griechenlands und der Ukrainekrise wird die Europäische Union durch die aktuellen Auseinandersetzungen in der Flüchtlingspolitik auf eine neue Zerreißprobe gestellt. Es besteht die Gefahr des Auseinanderbrechens der EU, sollte es ihren Mitgliedsstaaten nicht gelingen, sich zu einer gemeinsamen und solidarischen Lösung für die Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge durchzuringen.
Wie geht es weiter mit Europa? Wie kann es in Zeiten schwerer Krisen gelingen, die großartige Vision einer freiheitlich-demokratischen Union von Nationalstaaten aufrechtzuerhalten und Europa weiter voranzubringen? Dazu ist auch der Rat und die Besonnenheit von Wissenschaftlern gefragt, die über die Tagespolitik hinaus Perspektiven für eine erfolgreiche Gestaltung der Zukunft Europas aufzeigen können.
Nach zwei früheren Hochschultagen zur Finanz- und Wirtschaftskrise hatten die Veranstalter mit Prof. Dr. Andreas Wirsching einen der bedeutendsten Experten für die Europäische Zeitgeschichte eingeladen. Prof. Wirsching lehrt Neue und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Er gehört wichtigen historischen Kommissionen an und ist Verfasser und Herausgeber von mehr als zweihundert Veröffentlichungen.
Zur Eröffnung des 20. Hochschultages begrüßte unsere Europa-Songgruppe unter der Leitung von Dr. Hanne Grünsteudel, die auch diesen Hochschultag mitorganisiert hatte, die Besucher in der gut besetzten Kulturhalle mit dem mehrsprachigen Europasong „L’Europa“ (siehe auch Songtext).
Nach den Grußworten unserer neuen Schulleiterin, Frau Christine Döbert, und Herrn Bürgermeister Roland Kern, gab Dr. Dietmar Herdt als Mitorganisator des Hochschultages und in Vertretung des erkrankten Kollegen Prof. Dr. Wolf eine inhaltliche Einführung in die Thematik des Abends.
In dem Hauptvortrag des Abends stellte Prof. Wirsching seine These voran, nach der Nationalstaat und Europäische Integration historisch betrachtet keine Gegensätze sind. Die Fortentwicklung der EU impliziere nicht die Abschaffung des Nationalstaates, sondern könne sogar zu dessen Rettung beitragen.
In seinem sehr gut strukturierten und allgemein verständlichen Vortrag erläuterte Prof. Wirsching seine Thesen für die wichtigsten historischen Stationen auf dem Weg der Europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg.
Für den Schumann-Plan (1950) stellte er die deutschen und französischen Interessen gegenüber, die durch supranationale Zugeständnisse zu einem Kompromiss führten, der für beide Nationen wirtschaftliche und politische Vorteile brachte.
Auch der Vertrag von Maastricht (1992) kam nicht primär aus europäischem Idealismus zustande, sondern als Antwort auf eine Krise Europas, in der verschiedene, aber komplementäre nationale Interessen eine europapolitische Dynamik erzeugt haben.Angesichts des erfolgreichen Vertrags von Maastricht, der als Vollendung des westeuropäischen „Pfades“ gesehen werden konnte, wurde nach dem Zusammenbruch des Kommunismus dieser „Pfad“ auch bei der Osterweiterung der EU (2004/2007) fortgeführt, bei der die beteiligten Nationalstaaten auf Teile ihrer Souveränität zugunsten der EU und gemeinsamer supranationaler Interessen verzichtet haben.
Mit dieser „Vorgeschichte“ erscheint die aktuelle Krise der EU im historischen Maßstab betrachtet nur als eine weitere Momentaufnahme. Auch für die Lösung der Euro-Krise und den Umgang mit der Flüchtlingsthematik plädierte Prof. Wirsching für den europäischen Pfad. Ziel sei die Weiterentwicklung der EU zu einem modernen und dynamischen Europa, das sich heute wie in künftigen Krisen ständig neu bewähren und dabei auch immer wieder neu erfinden müsse.
Angesichts der zunehmenden Globalisierung sieht Prof. Wirsching in der Europäischen Integration den einzigen vernünftigen Weg, auf dem auch die europäischen Nationalstaaten weiter bestehen könnten. Allein Europa biete den Koordinierungsrahmen für ein friedliches und wirtschaftlich erfolgreiches Zusammenleben der Nationen auf der Grundlage von freiheitlich-demokratischen Prinzipien, die von allen geteilt werden.
Als Fazit stellte Prof. Wirsching fest: Nationalstaat und Europäische Integration sind historisch keine Gegensätze. Sie sind es auch nicht für die Zukunft.
Der seit 1950 von den Mitgliedsstaaten der EU entwickelte europäische Weg habe per Saldo einen Zugewinn für die beteiligten Nationen gebracht. In der Euro-Krise habe sich dieser Pfad der Problemlösung bislang bewährt. Auch beim Thema Flüchtlinge, Migration und Einwanderung sieht er mittel- bis langfristig Anzeichen für nachhaltige europäische Lösungen.
An dieser Stelle sei auf die großen Erfolge in der jüngsten europäischen Wissenschaftsgeschichte verwiesen. Die Entdeckung des Higgs-Bosons am Europäischen Kernforschungszentrum CERN und die erfolgreiche Rosetta-Mission der Europäischen Weltraumorganisation ESA mit der spektakulären Landung auf einem Kometen markieren finanzielle und wissenschaftliche Höchstleistungen der europäischen Scientific Community, die einzelne Wissenschaftsnationen im Alleingang so nicht hätten bewerkstelligen können.
Auf früheren Hochschultagen hatten Prof. Siegfried Bethke (CERN) und Dr. Paolo Ferri (ESA) als hauptverantwortliche Wissenschaftler aus erster Hand über diese beiden europäischen Mega-Projekte berichtet, denen jeweils eine Planungs- und Vorbereitungszeit von mehreren Jahrzehnten vorausging. Dabei wirkte die langjährige erfolgreiche wissenschaftliche Kooperation auf europäischer Ebene sehr positiv zurück auf die Arbeit und die Bedeutung der beteiligten nationalen Institute. Diese Win-win-Situation könnte auch ein Vorbild sein für den notwendigen weiteren politischen und wirtschaftlichen Integrationsprozess, ganz im Sinne der Dialektik des Vortragsthemas von Prof. Wirsching.
Mit einem vorsichtigen Blick in die mögliche politische Zukunft Europas prognostizierte Prof. Wirsching die zunehmende Entwicklung zu einer Haftungsgesellschaft und die Bildung einer Steuer- und Finanzunion sowie die Vergemeinschaftung des Asyl- und Einwanderungsrechts, bis hin zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik.
Die an den Vortrag anschließende Diskussion mit dem Publikum war überwiegt geprägt von europafreundlichen Beiträgen. Einige europaskeptische Beiträge führten zu heftigen Gegenargumentationen von Besuchern des Hochschultages.
Die Rödermärker Hochschultage werden gemeinsam von der Nell-Breuning-Schule und der Stadt Rödermark veranstaltet. Mit ausgewählten wissenschaftlichen Themenkreisen soll der Dialog zwischen Hochschule, Schule und der interessierten Öffentlichkeit gefördert werden.
Dietmar Herdt, Simone Lemke